Wie schnell die Zeit vergeht

Wie schnell die Zeit vergeht

Das Glück der späten Freiheit: Die ersten Seniorentheatertage am Freiburger Theater mit Gastspielen und Workshops
Marion Klötzer, Badische Zeitung, 3. März 2008

„Ich bin halt vom Theatervirus infiziert“, meint Anneliese Goth vom Tübinger Frauentheater Purpur verschmitzt und fügt noch ein zufriedenes: „Das ist das Glück der späten Freiheit“ dazu. Die 83- Jährige hatte bei den Seniorentheatertagen im Theater Freiburg gleich zwei Auftritte an einem Tag, denn auch beim Generationentheater „Zeitsprung“ ist sie schon lange dabei. „Ich träumte immer schon vom Theaterspielen, aber da wollten sie nur die Schlanken und Schönen. Und dann hatte ich keine Zeit mehr für so was“, erzählt die kleine, runde Frau. Theaterspielen ist für sie seit dem Ruhestand ein Lebenselixier geworden – genauso wie für die rund sechzig angereisten Laienspielerinnen und Spieler aus Tübingen, Karlsruhe, Nürnberg und Ettlingen.

Fünf Tage lang changierte im Theater Freiburg die Haarfarbe hauptsächlich zwischen Grau und Weiß, was der Stimmung keinerlei Abbruch tat. Im Gegenteil: Viel Interesse, Spaß und Engagement herrschten in den ausgebuchten Workshops, den angeregten Publikumsgesprächen oder den bestens ausgelasteten Vorstellungen: „Die Atmosphäre war toll, und die Gruppen waren von der Resonanz des Publikums begeistert“ schwärmt auch Mitorganisatorin Nicole Lux. Initiator Helmut Grieser setzte bei der Auswahl der Stücke auf Vielfalt: Neben Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“, Krimikomödien und Kabarett gab es auch zwei erstaunlich schräge und experimentelle Eigenproduktionen zu sehen.

Einen traumhaft-versponnenen Theatermittag unter dem Titel „Und wenn sie nicht gestorben sind“ zeigte das Frauentheater Purpur (Regie: Uschi Famers) auf der Kammerbühne. Dabei bürsteten die neun Frauen nicht nur bekannte Märchen gegen den Strich, sondern brachen in ihrer Collage aus Liedern, Szenen und Gedichten auch noch so manch Erwartungshaltung. Nagt der Zahn der Zeit doch auch an Prinzessinnen: Selbst das blondgelockte Schneewittchen hat heute Tränensäcke und ein Doppelkinn – und der Prinz ist wahrscheinlich längst mit einer Jüngeren über alle sieben Berge.

Souverän gaben die neun Spielerinnen eine Ansammlung bizarrer Persönlichkeiten, wobei es neben vielen poetischen Momenten immer wieder zu aberwitzigen Situationen kommt: Da ruft eine „Ich bin Toni und am Ende!“, steigt theatralisch auf einen Stuhl, übergießt sich mit Benzin und will ihrem Leben als betrogene Ehefrau ein furioses Ende bereiten. Nur funktioniert das Feuerzeug nicht. Da kommen Aschenputtels Stiefschwestern mit Blindenbinden und schwarzen Sonnenbrillen auf dem Zahnfleisch angekrochen, nachdem sich die ganze Bagage so handfest um die Schuhe gestritten hat, dass beim nachfolgenden Publikumsgespräch mehrere Zuschauerinnen über die heftige und ungewöhnliche Aggressivität im Stück diskutieren. „Das hat unheimlich viel Spaß gemacht“, so die einhellige Ensemblemeinung, worauf Theaterpädagogin Uschi Famers augenzwinkernd zu bedenken gibt: „Knutschen und sich schlägern ist für Senioren tabu. Warum eigentlich?“ Beeindruckend waren jedenfalls nicht nur Körperausdruck und Kreativität, sondern auch, wie viel bissige Distanz diese Frauen zum eigenen Altern gefunden haben und mit wie viel Humor sie sehr persönliche Themen auf die Bühne bringen.

Rundum handgemacht sind auch die Stücke des Tübinger Theaters „Zeitsprung“, dessen wechselndes Ensemble aus vier Generationen besteht. Berührend und experimentell, wenn auch bisweilen etwas langatmig, zeigte ihr Stück „Kontakt- Schleifen“ auf der Bühne des Kleinen Hauses dann in einer Art buntem Bilderbogen allerhand Individuen im Aufbruch (Regie: Helga Kröplin). Auf gepackten Koffern sitzen Jung, Alt und Mittelalt zwischen Styroporquadern in einem Hotel im Irgendwo: Die einen voller Erwartungen, die anderen ratlos oder erschöpft. In einem Kaleidoskop aus schnell geschnittenen Momentaufnahmen geht es um das Woher und Wohin des Lebens, um Sehnsucht und Abschied.

Dabei ist vor allem die Begegnung und das sich ineinander Spiegeln der Lebensalter spannend: „Wie schnell die Zeit vergeht, man kann gar nicht langsam genug sein“, bedauert die Alte, während das schüchterne Mädchen diese schreckliche Jugend am liebsten beschleunigen würde, weil es so schwer an seiner ereignislosen Einsamkeit trägt. Nach und nach bröckeln die Fassaden, brechen sich Frust und Lust Bahn. Eine erstaunliche Inszenierung, die von den unterschiedlichen Energien ihrer Protagonisten und deren stellenweise hohem schauspielerischem Niveau lebt. Und natürlich von ihrer Botschaft, die nachklingt: „Es gibt nur ein Jetzt – und nie ein Ewig.“