Götter machen Dienst nach Vorschrift

Götter machen Dienst nach Vorschrift

Thomas Krupa inszeniert am Städtischen Theater Freiburg Bertolt Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“
Bettina Schulte, Badische Zeitung, Kultur, 13. März 2006

In Freiburg machen die Götter Musik. Trompete, Querflöte, E-Gitarre. Sie tragen elfenbeinfarbene Anzüge mit Rüschenhemden. Sie könnten einer Big-Band von Kurt Edelhagen entsprungen sein. Was sie sonst noch auf der Erde verloren haben könnten, weiß man nicht. Die Hoffnung, einen moralisch integren Menschen zu finden, die ihnen Bertolt Brecht in seinem während des Zweiten Weltkriegs entstandenen Theaterstück „Der gute Mensch von Sezuan“ auf den Weg vom Himmel in die Niederungen gegeben hat, treibt diese drei nicht eben um. Unter der Revuebeleuchtung aus lauter roten Glühbirnen haben sie einen handfesteren Job zu erledigen.

Thomas Krupa, der mit Amélie Niermeyer als Oberspielleiter an die Städtischen Bühnen kam und zwischen Musiktheater und Schauspiel vagabundierte, nimmt mit seiner ersten Sicht auf den epischen Dramatiker Abschied von Freiburg. Es ist ein würdiger, ein gelungener Abschied. Für die Zuschauer findet er nicht von den gewohnten Plätzen im Zuschauerraum aus statt, sondern von drei steilen Tribünen auf der weiträumigen Bühne. Man rückt dem dramatischen Geschehen, das der Bühnenbildner Andreas Jander mit einer sehenswerten Ansammlung hässlicher Stühle garniert hat, ziemlich nahe. Was der Regisseur mit Brecht veranstaltet, ist eine Art offenes, experimentelles Spiel – so offen, dass der Eindruck aufkommt, es sei inszenatorisch noch nicht zu Ende gebracht; was auch deshalb nicht verwunderlich wäre, als der verbohrte Streik im öffentlichen Dienst sich ganz manifest auf diese Produktion ausgewirkt hat. Am Ende musste laut Dramaturg Josef Mackert das gesamte Haus beim Bühnenaufbau anpacken – ansonsten hätte man nicht spielen können.

Unberührt von jedem Unbill zeigt sich die Schauspielerin, dank derer dieser Abend zum Ereignis wird. Auch wenn sie in Freiburg schon etliche große Rollen gespielt hat – so gut hat man Janina Sachau noch nie gesehen. Eine besondere Herausforderung gebiert gelegentlich großartige Ergebnisse: Die Doppelrolle Shen Te /Shui Ta meistert Sachau mit Bravour. Es gelingt ihr, alles Holzschnittartige, das in der Gender-Schizophrenie dieser Figur lauert – die gute mit Empathie begabte Frau auf der einen, der pragmatische, auf seinen eigenen Vorteil bedachte Mann auf der anderen Seite –, zu unterlaufen und mit Hilfe von Michael Siebrock-Serafimowitschs raffinierter Kostümregie weniger die Bruch- als die Nahtstellen zwischen dieser von den kapitalistischen Verhältnissen erzwungenen Persönlichkeitsspaltung deutlich zu machen.

Als Shen Te, die Prostituierte, die den Göttern für eine Nacht Unterschlupf gewährt und dafür mit 1000 Silberdollar belohnt wird, kann Janina Sachau so lasziv wie mädchenhaft zart, so durchdrungen von der Liebe wie ratlos verzweifelt sein. – Die Liebe im Übrigen: eine wunderschöne Szene, dieser imaginierte Spaziergang durch die noch schlafende Stadt Sezuan nach der ersten Nacht mit ihrem Flieger. In der Hosenrolle des Shui Ta bleibt diese Ausdrucksvielfalt notgedrungen auf der Strecke. Doch in keinem Moment gerät die mit den Insignien der Männlichkeit – Cowboystiefel, schwerer Gang, Sonnenbrille, Zigarre – fast überdeutlich ausstaffierte Schauspielerin in die Gefahr des Chargierens. Man sieht ihr über zwei Stunden gebannt zu, wie sie die Rollengrenzen immer durchlässiger gestaltet, bevor sie am Ende implodieren – eine grandiose Leistung, die mitunter vergessen lässt, was denn der Sinn, die Botschaft dieser Brecht-Auslegung sein soll.

Aber gibt es überhaupt Greifbares? Gut: Die Verhältnisse, sie sind nicht so, dass der Mensch gut sein kann. Und daran hat sich seit Brechts Zeiten kaum etwas geändert. Thomas Krupa freilich schreckt vor jedem allzu deutlichen Zeigegestus zurück. Und das ist gut so. Die Götter, bei Brecht zwar auch schon machtlos, aber durchaus von einer Mission getrieben, haben hier restlos abgedankt. Ursula Dierstein, Harald Jeske und Bernhard Kuner, drei der von Helmut Grieser betreuten Seniorentheatergruppe „methusalems“, greifen kaum einmal ins Geschehen ein. Die Regie ist an Thiemo Schwarz’ zum gelackten Entertainer mutierten Wasserverkäufer Wang übergegangen, der die Signale zum musikalischen Einsatz gibt. Da hat er viel zu tun: Krupa lässt die von Ari Benjamin Meyers glänzend bearbeitete Originalpartitur von Paul Dessau spielen; zum Teil live (am Flügel: Nikolaus Reinke), zum Teil gesampelt (Sven Hofmann), unterstützt von zwei reizenden Backgroundsängerinnen. So wird aus einem Theaterstück unter der Hand eine Revue im Stil der 60er mit zum Teil bewusst gegen den Strich gebürsteten Spieleinlagen: Matthias Scheurings Flieger Yang Sun ist mit seiner Leibesfülle alles andere als ein attraktiver Typ, während Herbert Schäfer einen bei aller Selbstlosigkeit durchaus smarten Barbier Shu Fu abgibt.
Am Ende sitzen alle Mitwirkenden in einer Reihe. Was Shen Te /Shui Ta zur Rechtfertigung ihrer Doppelexistenz vorbringt, will keiner wirklich hören. Die Götter haben längst den Abgang gemacht. Wahrscheinlich will es ver.di so. Die Welt ist von allen (guten) Geistern verlassen.