Machtaktion Sühnezeichen

Machtaktion Sühnezeichen

Christiane Pohle inszenierte Jean-Paul Sartres „Fliegen“ am Theater Freiburg als packendes Thesenstück
Bettina Schulte, Badische Zeitung, Kultur, 10. Februar 2004

Jean-Paul Sartres Theaterstück „Die Fliegen“ entstand 1943, während die Deutschen Frankreich besetzt hielten. Der Philosoph, der zur selben Zeit an seinem Opus Magnum „Das Sein und das Nichts“ arbeitete, verfolgte mit dem Dreiakter nach Aischylos‘ „Orestie“ seinem eigenen Eingeständnis zufolge zuerst und zunächst hehre propagandistische Absichten: Seine Landsleute sollten aus ihrer Lethargie der Besatzungsmacht gegenüber gerissen werden und der Mut zum Widerstand sollte geweckt werden. Der Held Orest als Inbild eines Résistance-Kämpfers, der eine mörderische Tat begeht, ohne die geringste Reue zu verspüren – im prekären Wissen darum, dass als Vergeltung für jeden getöteten Deutschen sieben Franzosen ermordet wurden: Jede Inszenierung, die den zeitgeschichtlichen Kontext des Dramas nicht mehr für sich in Anspruch nehmen darf (was ja schon zwei Jahre nach der Entstehung des Stücks der Fall war), muss es nach einer von seiner konkreten Verortung unabhängigen Plausibilität befragen.

Sartre selbst war die Problematik schon bei der deutschen Erstaufführung im Jahr 1948 durchaus bewusst – und auch die junge Regisseurin Christiane Pohle, die „Die Fliegen“ am Kleinen Haus des Freiburger Theaters inszeniert hat, weiß sehr wohl um die Vertracktheit ihrer Vorlage, die einerseits den Bogen bis zur griechischen Antike schlägt, andererseits einen solch kurzen allegorischen Atem hat. In einer grandiosen Szene attackiert die großartige Schauspielerin Nadine Geyersbach die Buße- und Reuerituale einer sich haltlos in jedes öffentliche Bekennertum stürzenden Gesellschaft – vom Genozid an den Juden bis zur Lewinsky-Affäre und – „Bärbel vergib mir“ – dem Kokaingenuss in privaten Räumen; das ganze „Affentheater“ (Orest) eben, das sich vom christlichen Sünden- und Gewissensdruck auf die mediale Rhetorik verlagert hat.

Doch dieser Ausflug in die Gegenwart bleibt ein vereinzeltes Schlaglicht. Bei Sartre ist die Gesellschaft von Argos in bizarren Mea-Culpa-Gesten gefangen, die dazu dienen, die Menschen klein und von ihnen die existenzialistische Erkenntnis fern zu halten, dass der Mensch dazu verurteilt ist, frei zu sein. Auf dieser Ebene lassen sich „Die Fliegen“ auch als Thesenstück zur Illustration der Sartre’schen Philosophie lesen. Wenn die „Methusalems“, die von Helmut Grieser gegründete Truppe älterer Laienschauspieler, sich als Volk von Argos wie die Parodie eines griechischen Tragödienchors mit Inbrunst bezichtigen, Kloake, Dreck zu sein, wirkt das befremdlich. Was nichts daran ändert, dass die Methusalems von der Regisseurin ganz wunderbar in Szene gesetzt werden – schon zu Anfang, als einer nach dem anderen mit einer Fliegenklatsche hinter dem üppigen resedagrünen gerüschten Seidenvorhang hervorhuscht, mit dem Maria-Alice Bahra (Bühne und Kostüme) fast den gesamten Theaterraum eingehüllt hat: eine angekränkelte Pracht, in der sich mal hier, mal da Einblicke in den Palast öffnen, in dem es sich Klytämnestra und Ägist seit ihrem gemeinsam geplanten schändlichen Mord an Agamemnon vor 25 Jahren gut gehen lassen, während der Täterin Tochter Elektra in einem kleinen Bundeswehrzelt zwischen Müllsäcken haust.

. . . bis Ägist todesmüde in Loriots Badewanne sinkt

Wer sollte diese widerborstige struppige, bunt gescheckte Elektra sein, wenn nicht Nadine Geyersbach? Wie sie sich in die Figur wirft, die in ihren Träumen schon tausendmal Mutter und Stiefvater ermordet hat und der am Ende dann doch der Mut fehlt, Orest in die Freiheit der reuelosen Verantwortung für den Doppelmord zu folgen, könnte man für Augenblicke meinen, „Die Fliegen“ seien nur für sie geschrieben. Christian Hellers Orest kann da nicht wirklich gegenhalten, auch wenn es ihm überzeugend gelingt, die Wandlung vom zögerlichen Intellektuellen, einem wurzellosen bürgerlichen Bildungsreisenden, zum – soll man sagen – Terroristen nachvollziehbar zu machen, der durch seine Tat nicht nur, vielleicht sogar nur vordergründig, Rache übt, sondern sich auch eine Identität verschaffen will (wie Sartre durch seinen Kriegseinsatz). Orest scheitert. Weder kann er die Liebe seiner Schwester Elektra gewinnen noch die Zustimmung des Volkes. Er schleicht sich am Ende unerkannt aus der Stadt. Möglicherweise ist der Weg von ihm zur RAF kürzer, als man denkt.

Kaum minder beeindruckend als dieses Paar agieren Gabriele Köstler und Ullo von Peinen, unlösbar verbunden durch ein einst mit jubelnder Freude und triumphierend erhobener Axt kommentiertes Verbrechen, das sie im Verbund mit Gott Jupiter (gewieft und abgebrüht: Achim Buch mit Sonnenbrille) zur Machtaktion Sühnezeichen ummünzen – bis Ägist todesmüde in Loriots Badewanne sinkt, um den finalen Axthieb widerstandslos entgegenzunehmen.

Christiane Pohles Inszenierung ist so glänzend gelungen und in sich stimmig, wie es unter den heutigen Umständen dieses Textes möglich war. Sie wirft mehr Fragen auf, als sie beantworten kann, aber solches hat der Kunst ja noch nie geschadet. Dass den deutschsprachigen Bühnen hier ein großes Talent zuwächst, davon zeugte nebenbei die Premierenanwesenheit mehrerer Intendanten. Auch ohne diese Herren ist klar geworden: Von dieser Regisseurin ist noch einiges zu erwarten.