Forever young? Ich lach‘ mich tot

Forever young? Ich lach‘ mich tot“

Opa will es noch einmal wissen: Die 1. Freiburger Seniorentheatertage, Martin Halter, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. März 2008

Im Alter stellt sich, wie wir von Walsers Goethe wissen, eine zweite Pubertät ein; vielleicht geben sich die Seniorentheatergruppen deshalb so infantil-freche Namen wie Krabbelgruppen und Kindertheater. Sie nennen sich, einen späten Jetzt-erst-recht-Trotz mit altersweiser Selbstironie verschwisternd, „Restrisiko“, „Dritter Frühling“, „Raureif“, „Spätlese“, „Antiquitäten“, „Graue Stars“ oder auch einfach „Seniorentheater der Grausamkeit“. Die Freiburger Truppe heißt „methusalems“, Mindestalter: 65 Jahre. Betty Hauger ist rüstige 96, und ihre Mitspieler rennen in „Arsen und Spitzenhäubchen“ die steilen Stufen des britischen Mörderhauses noch ohne Gehhilfe und Treppenlift hinauf. Theater hält jung. Das Auswendiglernen, sagt Renate Gimmi, die herrlich tüttelige Abby,  ist „Gehirnjogging“, und als Giftmörderin kann sie „Aggressionen rauslassen“, die man einer anthroposophischen Ärztin im Ruhestand nicht unbedingt zubilligt. Für Gimmi ist Abby „der Höhepunkt meines Lebens“. So ähnlich sehen es auch die anderen Methusalems: Was für ein Glück, noch einmal was ganz anderes machen, ein ganz anderer sein, versäumtes Leben nachholen zu dürfen. Bevor Hans-Dieter Helmeke Jura studierte, fiel er bei der Aufnahmeprüfung für die Schauspielschule durch. Viel später, als ihm seine Frau beim Frühstück die Anzeige in der Theaterzeitung vorlas, sagte er sich „Jetzt oder nie“. Jetzt spielt der pensionierte Richter mit sichtbarer Lust am Seitenwechsel den Massenmörder Jonathan; sein Freund im Leben, Staatsanwalt Harald Jeske, ist auch auf der Bühne sein Komplize Dr. Einstein. Die emeritierte Altphilologin empfindet es als „große Bereicherung“, Martha, die Mördertante, spielen zu dürfen. Der pensionierte Bankkaufmann ist dankbar dafür, „den Großkopfeten endlich die Meinung sagen“ zu dürfen. Für Thomas Schelenz, den Pastor, war es eine Erlösung, als er, Sohn eines Freiburger Bildhauers, nach seinem ungeliebten Brotberuf im Institut für Sonnenphysik endlich Künstlerluft schnuppern durfte.

Second Life: Natürlich ist Schauspielen für die Methusalems späte Kompensation für unerfüllte Lebensträume. Aber Helmut Grieser, ihr Regisseur, nimmt die Sache noch etwas ernster: Er war Schauspieler und schwärmt heute noch von Kortner. Als er vor acht Jahren die „methusalems“ gründete, ließ er die Bewerber erst einmal einzeln vorsprechen. Seither findet jede Woche mindestens eine Probe statt. Familienfeste und Urlaube müssen aufgeschoben werden; krank wird eh niemand, der auf der Bühne stehen darf. Für „Arsen und Spitzenhäubchen“ hat Grieser acht Monate lang Abgänge, Timing und Laufwege proben lassen. Die Mühe hat sich gelohnt: Das Stück lief schon 28 Mal vor ausverkauftem Haus. Da kommt selbst Barbara Mundel, die Intendantin, ins Grübeln.

Jetzt hat Grieser zusammen mit den Städtischen Bühnen die 1.Freiburger Seniorentheatertage mit Produktionen aus ganz Süddeutschland, Workshops und Diskussionen organisiert. Keine Leistungsschau sollte es werden, sondern ein kollegialer Austausch, ein Beitrag zur Reihe „Demografischer Wandel als Chance“ und nicht zuletzt ein „öffentlicher Mutmacher“: „Wir wollen, dass die Alten sich nicht verkrümeln und nur über Rente und Krankheiten reden.“  Seniorentheater ist keine geriatrische Beschäftigungstherapie. Die Neuen Alten sind strotzen vor Vitalität, Fitness und Selbstbewusstsein. Schon die Titel ihrer Inszenierungen sprechen für sich: „Alt werden ist nichts für Feiglinge“, „Wie kommt John Wayne ins Altersheim?“, „Forever young – ich lach mich tot“. Natürlich gibt es auch noch die Klamotten aus dem Komödienstadel, Knaller wie „Opa will es noch einmal wissen“. Schließlich hat sich das Seniorentheater in den Siebzigern aus dem Volks- und Mundarttheater entwickelt und, anders als das notorisch kritische Kinder- und Jugendtheater, nie systemsprengende Ambitionen gehegt. Aber mit englischen Kriminalkomödien geben sich Rentner heute auch nicht mehr zufrieden. In Freiburg zeigen nur die Nürnberger von „Tempo 100“ einen leicht angestaubten Agentenschwank, Arthur Watkyns „Streng geheim“. In „Arsen und Spitzenhäubchen“ hält sich der verrückte Georgie für George Bush, und wenn er zu den Leichen im Keller stapft, spricht er von seinem „Kuwait“: Auf solche Ideen kommen sonst nur Jungregisseure.

Lieber erarbeiten die Senioren sich ihre Stücke selber: Blicke zurück, mal nostalgisch verklärt, mal zornig, Erinnerungstheater, Satiren auf Jugendwahn und Gesundheitsreform, Alltagsszenen zwischen Kreuzfahrt und Altersheim. Das Tübinger Frauentheater Purpur zeigt in Freiburg „Und wenn sie nicht gestorben sind“: Märchen, in die Gegenwart fortgeschrieben, frei nach dem Motto der Bremer Stadtmusikanten „Etwas Besseres als den Tod findest du überall“. Die neun Frauen sind so schräg und aggressiv, dass hinterher schon mal irritierte Fragen kommen; aber Regisseurin Uschi Famers will nicht einsehen, warum „Knutschen und Schlägern für Senioren tabu“ sein soll. „Graue Zellen“, das Ettlinger Seniorenkabarett, hechelt in „Glücklich ist, wer vergisst“ alte Themen wie Anti-Aging-Cremes, Einschlafen vor dem Fernseher oder Mick Jagger durch. Hier wirken allenfalls die Trinklieder („Trinke, Alter, trink dich warm/ Trinken macht den Doktor arm“) irritierend; aber die silberhaarige Zuschauer gehen begeistert mit und quittieren jede Pointe mit einem glucksenden Seufzer: „Kennen wir“. Grieser allerdings sieht den erklärten Verzicht der „Graue Zellen“ auf „professionelle Perfektion“ mit leisem Unbehagen: Liebhabertheater ist ihm ein Gräuel.

Die Profis haben die Alten längst für sich entdeckt. Jeder Intendant in der Provinz weiß heute, dass man mit „radikal jungem“ Theater nur die treuen Senioren verprellt. Wenn sich die Theater schon für alle möglichen Randgruppen öffnen, kann man ruhig auch mal wieder eine Operette auf den Spielplan setzen, eine Dramaturgin für den „Seniorentheaterclub“ freistellen oder, wie in Freiburg, Senior-Statisten in Sartres „Fliegen“ mitspielen oder im Zukunftslabor von „Pastor Leumund“ Hörspiele erarbeiten lassen. Seniorentheater, sagt Mundel, soll die gesellschaftliche Teilhabe der Alten “möglich und sichtbar machen“. Und vielleicht auch Leute ins Theater zurückholen, die sich noch freuen, wenn in der Pause ein Pianist spielt und die Sprechkultur auch mit klapperndem Gebiss nicht vor die Hunde geht. Wenn Hamlet schon weiblich, schwarz und schwul sein kann: Warum dann nicht auch mal „Romeo und Julia“ oder „Frühlingserwachen“ mit Senioren gegen den Strich bürsten? Wenn starke Alte in „Lass krachen, Alter“ auf Kurt Cobains Spuren hinken oder, wie in Martin Suters „Mumien“, einen Aufstand im Altersheim anzetteln, finden das auch die Enkel cool. Junge deutsche Autoren machen immer öfter bislang als unsexy geltende Themen wie Pflege, Demenz oder Sterbehilfe zum Gegenstand von Grotesken und poetischen Märchen: Theresia Walser („King Kongs Töchter“), Dea Loher („Der dritte Sektor“), Andreas Veiel („Die letzte Probe“). Felizitas Zeller („Meine Mutter war einundsiebzig und die Spätzle waren im Feuer in Haft“).

Aber diese Spätzle kommen im Seniorentheater eher selten auf den Tisch, so wenig übrigens wie die altengerechten Klassiker von Shakespeare bis Thomas Bernhard. „Ein alter Mensch ist stets ein König Lear“ sagt Goethe, und vielleicht spielen Senioren deshalb lieber Stücke aus dem eigenen Leben. Dürrenmatt forderte einst die Autoren auf, im eigenen Interesse mehr Stücke für alte Schauspieler zu schreiben, weil die „junge Generation nicht auf der gleichen Höhe“ sei. „BaSta“ aus Karlsruhe zeigt in Freiburg immerhin seinen „Besuch der alten Dame“. Gerade weil manches Stückwerk und Deklamation bleibt, verwandelt sich die Komödie unter der Hand in eine ergreifende Tragödie: Claire will mit ihrem Geld weniger späte Gerechtigkeit als ihre Jugend zurückkaufen, und Ill, ihr Ex-Geliebter, kapituliert mehr vor der Zeit als vor der Habgier der Güllener.

Die Seniorentheaterszene ist neuerdings gut vernetzt. Überall finden Festivals statt, im Herbst eines unter dem schönen Titel „Herzrasen“ sogar im Hamburger Schauspielhaus. Der „Bundesarbeitskreises Seniorentheater“ hat sich auch schon eine Magna Charta gegeben, die „Scheinfelder Erklärung“. „Theaterspiel mit älteren Menschen“, heißt es darin, sei ein wichtiger Beitrag für Erinnerung, Reflexion, „innere Beweglichkeit“ und die „versöhnliche Lebensbilanz“ der Senioren. Es beleuchte unser aller Gegenwart aus der souveränen Distanz des Alters und entwerfe „neue Bilder und Selbstbilder des Alterns“: „Es geht darum, dem reichen Schatz an Erfahrungen eine Form zu geben und sie zu verwandeln statt innerlich zu erstarren“. Das klingt feierlich und unterschlägt ein wenig, dass Seniorentheater neben künstlerischen vor allem soziale und therapeutische Aspekte hat.

Seniorentheater ist meistens armes Theater. Die wenigsten Gruppen können sich professionelle Regisseure oder aufwändige Bühnenbilder leisten. Sie treten, wenn sie nicht gerade Unterschlupf im großen Theater finden, in Altersheimen oder bei Familienfeiern auf, und manchmal sind die feuchten Augen der Demenzkranken der einzige Lohn. Aber der Weg ist das Ziel; die Gruppe schützt vor Vereinsamung. Das Beste am Alter, schwören die „Methusalems“ in einem Sketch, ist: Endlich ohne Schuldgefühle alles sagen und machen zu dürfen. Und selbst wenn man vieles lassen muss, weil die Knochen und die Konzentration nicht mehr so mitspielen: Der Applaus und das Gefühl, noch nicht zum alten Eisen zu gehören, sind unbezahlbar. Seniorentheater ist Lebenshilfe und braucht dafür nicht mal Subventionen: Die „methusalems“ machen sich auch als „Schauspielpatienten“ bei Prüfungen für Medizinstudenten nützlich; „Nierosta“ aus Leinfelden-Echterdingen spielt gar im Auftrag der Kriminalpolizei die Komödie „Ein Dieb kommt selten allein“.