Das Theater als russische Küche

Badische Zeitung, Dienstag, 11. Oktober 2016

Szenische Alexijewitsch-Lesung mit den Methusalems

In der russischen Küche wird nicht nur gekocht. Sie ist auch Ess- und Wohnzimmer. Vor allem aber ist sie ein Ort, an dem Geschichte zu Tee und Wodka auf den Tisch gebracht wird. Jetzt war das Kleine Haus des Freiburger Theaters russische Küche. In der Mitte ein Tisch mit Büchern von Tolstoi und Lenin. Drumherum 16 Stühle, allesamt weiß.
Mehr Bühne braucht es für „Secondhand-Zeit“, der dokumentarischen Interview-Sammlung der weißrussischen Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch nicht. Was wirkt, ist die Geschichte des Homo sovieticus und seiner bitter enttäuschten Seele, die sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht mehr aufgehoben fühlt. Um ihren fast 600 Seiten starken Wälzer auf die Bühne zu bringen, haben Sahar Amini und Jonas Lindner daraus eine sehr viel kürzere Textfassung gemacht. Wolfgang Berthold hat inszeniert.
Statt ins Spielen zu kommen, bleiben die um den Tisch versammelten Methusalems, das Seniorentheater am Theater Freiburg, sitzen und lesen sich vor, was Alexijewitsch an Material zusammengetragen hat. Menschliches Drama als szenische Lesung. Sie lesen aus dem oft unerträglichen Alltag einer Zwangsgemeinschaft – von Trinkern, die vergessen wollen, von Imperialisten, die sich Stalin zurückwünschen, von Paaren, die sich fremd werden, weil sie Armenierin und er Aserbaidschaner ist und die auseinandergefallene Sowjetunion sie nicht mehr eint. Alexijewitsch hat in ihrem Buch exemplarisch collagiert, wie den Menschen im Sozialismus und danach Geschichte aufgezwungen wurde. Dabei geht es ihr nicht ums Bewerten. Vielmehr spürt sie dem Erbe der Sowjetunion nach. Dafür hat sie 2013 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2015 den Literaturnobelpreis erhalten.

Berichte, die erschüttern

Am Küchentisch im Theater wird nicht geweint, obwohl die verlesenen Berichte immer wieder erschüttern. Ein Glück, dass die Methusalems nicht in die Menschen aus Alexijewitschs Buch hineinkriechen, sondern ihnen lediglich ihre Stimme leihen. Noch dazu eine normale. Und nicht die eines stimmtrainierten Schauspielprofis. Ab und an – das sind die Momente, in denen der in der zweiten Reihe sitzende Zuschauer mal kurz Luft holen kann – wird das Lesen durch ein beobachtendes „sie schreit“ oder „mit versagender Stimme“ von Methusalem Harald Jeske durchbrochen. Er spricht ein, was Alexijewitsch ihren Gesprächsprotokollen in Klammer beigefügt hat.
Die Leser werden nicht eins mit ihren gelesenen Ichs, aber sie ähneln ihnen. Als Methusalem Barbara Motz über die im Tschetschenien-Krieg zurückgebliebene Tochter liest, schwingt da fast etwas Mütterliches mit: „Nein, sie ist nicht tot. Sie kommt zurück, als Krüppel. Ohne Beine…blind…Egal…Hauptsache sie lebt!“
Alexijewitschs Interviews brauchen keine Bühne, sie berühren aber auch dort. Vor allem, als die Methusalems am Ende der Lesung aufstehen und die Vielstimmigkeit des sozialistischen Dramas laut werden lassen.

Stephanie Streif