Traumrolle fürs Alter

Traumrolle fürs Alter

Wo nur über 65-Jährige eine Chance haben: ein Porträt der Freiburger Seniorentheatergruppe „methusalems“.
Mechthild Blum, Badische Zeitung, Magazin, 17. Mai 2008

Da ist er, der Hänger. Hans-Dieter Helmeke stockt und verzieht das Gesicht. Kämpft mit sich. Die Souffleuse springt ein. Und es geht weiter im Text. Die Mitglieder der Schauspielgruppe „methusalems“, die am Tisch versammelt sind, atmen auf. Wie oft haben sie „Arsen und Spitzhäubchen“, dieses Stück voll irrsinniger, mordlüsterner, älterer Herrschaften jetzt schon gespielt? 28-Mal. Acht Monate lang haben sie geübt, manchmal sogar täglich: Auftritte, Abgänge, Dialoge, die Mimik und den Körperausdruck; sind in die Kostüme geschlüpft, haben Lichtproben absolviert. Eigentlich sind sie Routiniers: Doch immer wieder sind sie da, das Lampenfieber und die Anstrengung. Wasser, Eukalyptusbonbons, Taschentücher – alles steht bereit. Jetzt ist äußerste Konzentration gefragt im Probenraum des Freiburger Stadttheaters.

Heute werden nur noch einmal die Rollen wiederholt. Hans-Dieter Helmeke, 73 Jahre alt, spielt den Massenmörder Jonathan, der seine nicht minder morderfahrenen Tanten Abby und Martha heimsucht. Dabei sieht Helmeke, wenn er nicht gerade auf der Bühne steht, so gar nicht erschreckend aus. Im Gegenteil. Mittelgroß, schlank, mit vollem dunkelblondem Haar und gepflegter Haut, ist er ein ruhiger und freundlicher Mensch, gewohnt, seine Umgebung mit dem milden Auge des Unparteiischen zu erfassen. Doch heute Abend ist sein Blick bohrend, sein Tonfall irritierend beängstigend, seine Bewegungen sind bedrohlich. Er wird zum gefährlichen Mörder. Eine Traumrolle ist das für den früheren braven Richter, in der er mal, wie er verschmitzt gesteht, so richtig den inneren Bösewicht herauslassen kann.

Auch Renate Gimmi (76) ist alles andere als die tüttelige Abby, die sie in dem Stück von Joseph Kesselring spielt. Die anthroposophische Ärztin mit dem kraftvoll grau-weißen Haarschopf und dem frischen Gesicht lacht: „Andere in meinem Alter absolvieren mühsam ein Gedächtnistraining.“ Sie dagegen bestreitet mühelos eine Aufführung, in der sie gut zwei Stunden pausenlos präsent sein muss. Überhaupt: Altersbeschwerden, wie eine schmerzende Hüfte, haben sich mit dem Theaterspielen für sie erledigt. Die Treppen auf der Bühne nimmt sie mit jugendlichem Schwung. Ihre Schauspielleidenschaft hat noch einige andere Veränderungen mit sich gebracht. Sie ist aus dem Neun-Zimmer-Haus in einem noblen Freiburger Wohnviertel in eine Drei-Zimmer-Wohnung in der Innenstadt umgezogen: „Ich wollte einfach näher am Theater sein. Meinen Kindern habe ich gesagt: Wenn ich damit klarkomme, dann klappt auch alles andere.“ Und für „Arsen und Spitzenhäubchen“ hat sie sogar ihren Brotberuf zwei Jahre früher als geplant an den Nagel gehängt. Jetzt geht sie gänzlich auf in der Rolle der altjüngferlich-mörderischen Abby – für sie ist es, „man darf es ja fast nicht sagen, der Höhepunkt meines Lebens“.

Abitur, Jurastudium, Familie, Richter und Beamter auf Lebenszeit. Mit 65 in Pension. Medizinstudium, Ärztin, fünffache Mutter. Und dann die Rente. Das waren mehr oder weniger geordnete Lebenläufe mit ihren Höhen und Tiefen. Und dann? Geruhsames Spazierengehen am Dreisamufer, verplauderte Kaffeekränzchen am kerzengedeckten Tisch, erinnerungsseliges Fotoalben-Sortieren? Das kann doch nicht alles gewesen sein. Einige haben noch Träume, die sie schon lange begleiten.

Hans-Dieter Helmeke war vor seinem Jurastudium bei einer Aufnahmeprüfung für die Schauspielschule durchgefallen. Auch Renate Gimmi wollte schon von Jugend an schauspielen. Aber wie das so ist mit Träumen – sie scheitern oft an der Realität. An den Eltern zum Beispiel. „Lern du erst mal einen richtigen Beruf“, heißt es. „Danach können wir weitersehen.“ So wendet sich der Blick, das Leben nimmt eine andere Wendung. Nicht einmal eine unglückliche muss es sein. Doch die Kindheitsträume lebten fort. Und mit einem Mal war sie da, die große Chance. Endlich! Zu einer Zeit, als sie die Träume fast schon begraben hatten. Eine Zeitungsanzeige im Jahr 2000 elektrisierte sie. Senioren gesucht zur Gründung einer Bühnentruppe. Mindestalter: 65 Jahre. Die Anzeige krempelte ihr Leben um.

Helmut Grieser, der Mann, der niemals ohne Schal um den Hals gesehen wird, war damals noch festangestellter Schauspieler am Freiburger Theater. Er erzählt davon, wie es kam, dass er die Anzeige aufgegeben hat. „Eines Morgens stand ich vorm Spiegel und dachte, bald bist du 60 und alt. Aber was ist das, das Alter?“ Und er wollte es wissen: „Zu welchen Leistungen sind ältere Menschen fähig, wenn man sie nicht mit Zerstreuung beruhigt, sondern mit professioneller Bühnenarbeit aufregt?“ Denn eins war für ihn klar: „Ich mache kein Liebhabertheater.“ Die Probe aufs Exempel, die er mit den „methusalems“ vor acht Jahren begonnen hat, fällt mehr als vielversprechend aus. Unter seiner Leitung erarbeiteten sie die Stücke „Jenseits von gut und böse“ und „Methusalems reisen“. Sie spielten kleinere Rollen in den Inszenierungen von Sartres „Die Fliegen“ und Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“ neben den Schauspielern der Städtischen Bühnen. Seit 2007 sind sie mit dem Boulevard-Klassiker „Arsen und Spitzenhäubchen“, zusammen mit dem Jugendclub des Theaters, zu sehen.

Auch Hans-Dieter Helmekes langjähriger Freund Harald Jeske, früher Staatsanwalt, der in „Arsen und Spitzenhäubchen“ seinen Komplizen Dr. Einstein gibt, war seinerzeit auf die Anzeige hin zum „Casting“ erschienen. Klammheimlich hatten sich beide damals beäugt: Wenn der genommen wird und nicht ich, was dann? Doch schnell einigten sie sich auf ein selbstloses: Wäre nur einer von uns genommen worden, wir hätten beide verzichtet. Die Freundschaft jedenfalls hat nicht gelitten. Auch zwischen den anderen „methusalems“ sind feste Bindungen entstanden, die sie im persönlichen Leben tragen – und auf die Bühne zurückwirken. So konnten auch die Darstellerinnen Renate Gimmi/Gisela Strasburger und Ludmilla Müller/Gerburg Rüsing die Doppelbesetzung der mordlustigen Damen Abby und Martha in „Arsen und Spitzenhäubchen“ gut und fair lösen.

Sie und die anderen Mitglieder der Schauspieltruppe treffen sich mit Helmut Grieser jede Woche zu Proben, am Stammtisch und zum Bewegungstraining. Meister nennen sie ihn. Allenfalls die Geschmeidigkeitsübungen einer Katze, die Tänzerin Emma-Louise Jordan ihren Kursteilnehmern beim Bewegungstraining abverlangt, setzen dem „Meister“ gewisse Grenzen. Bei einem neuerlichen Casting war zu spüren, wie die Begeisterung dieses „Altersforschers“ die Körper der Spieler beflügelt. Es war zu spüren, wie er die Figuren formt, die sie für sich entworfen hatten. Und wie sein Ehrgeiz sich fortsetzt beim Üben kleiner Lebensabschnittsdialoge aus der Feder seiner Frau Ingrid Israel.

Harald Jeskes Augen glänzen, wenn er von den „methusalems“ spricht: „Attraktivität und Begehren“ seien das Licht dahinter, wie er gerne zugibt. Denn für ihn hat sich die Leere nach der Pensionierung verflüchtigt, seit er auf der Bühne steht. Thomas Schelenz, Sohn eines Freiburger Bildhauers, früher technischer Leiter am Kiepenheuer-Institut für Sonnenphysik und mit 67 einer der Jüngsten der Truppe, glüht vor Freude: „Ich habe mich mit der Frage herumgeschlagen, was ich in meinem Leben anders machen würde, könnte ich es noch einmal von vorne beginnen. Die Antwort habe ich hier gefunden.“ Für die Altphilologin Gisela Strasburger ist das Theaterspielen eine „enorme Bereicherung“ und auch die 96-jährige Betty Hauger möchte es nicht mehr missen. Für sie und alle anderen „methusalems“ wurde die Schauspielerei zum Aufbruch in ein neues Leben. Ihre Familien, deren Feste und Urlaube richten sich jetzt nach den Auftrittsterminen. Krank zu werden können sie sich eigentlich nicht mehr leisten. Ausgesprochen anstrengend ist das Leben im Ruhestand geworden – und das macht sie glücklich.

Seniorentheater – ein Therapeutikum? Ganz gewiss. Der Bundesarbeitskreis Seniorentheater schreibt: „Die künstlerische Tätigkeit fördert die innerliche Beweglichkeit und kann zu einer versöhnlichen Lebensbilanz beitragen. Durch die Beschäftigung mit existentiellen Fragen, wie etwa nach Leben und Tod und dem begleitenden Prozess des Sicherinnerns entstehen individuelle Bilder und Emotionen. Theater bietet den Ort, an dem man diese Gefühle in einen erlebbaren und sichtbaren Ausdruck bringen kann. Es geht darum, dem reichen Schatz an Erfahrungen eine Form zu geben und sie zu verwandeln, statt innerlich zu erstarren.“ So ist es nicht verwunderlich, dass sich die Senioren ihre Stücke gern selbst erarbeiten. Entlang der eigenen Lebenserfahrung.

Und wie sagte die französische Schriftstellerin, Philosophin und Feministin Simone de Beauvoir: Auch im Alter muss man weiter ein Ziel verfolgen, das dem Leben einen Sinn gibt, damit es nicht zur Karikatur wird. So ist die Senioren-Avantgarde dabei, sich – fernab vom Regietheater, doch mit ambitioniertem Anspruch an Professionalität – zu einer Formation zu entwickeln, die von den Theatern ernst genommen wird, wie die Freiburger Intendantin Barbara Mundel bestätigt. „Arsen und Spitzenhäubchen“ lief am Stadttheater schon 28-mal vor ausverkauftem Haus. Die Karlsruher Gruppe BaSta spielte in dieser Saison Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“ bereits 35-mal. Und immer sind alle Plätze des Badischen Staatstheaters besetzt. Sie gehört ebenso zu jenen, die sich – unter der Regie des Theaterpädagogen Jochen Wietershofer – an den Profis orientiert. Und das Generationentheater Zeitsprung am Landestheater Tübingen könnte sich mit seiner Inszenierung „Kontakt-Schleifen“, wie sie in Freiburg unter der Regie von Helga Kröplin zu sehen war, durchaus in regulären Spielplänen einen Platz erobern.

Überhaupt: Seniorentheater, das, wie Mundel sagt, die gesellschaftliche Teilhabe der Alten „möglich und sichtbar machen soll“, kann Leute in den Zuschauerraum holen, die ihm sonst fern blieben. Und nicht nur älteres Publikum, sondern auch jüngeres. Es mindert die Schwellenangst. Ganz wie das Volks- und Mundarttheater, aus dem es sich zum Teil entwickelt hat. Wer dort hingeht, fürchtet keine „wilde“ Regie. Er fühlt sich nicht durch Bildungserwartungen belastet oder durch Forderungen an eine kritisch-reflektierte Analyse des Stücks. Und kann dann doch ganz angenehm berührt sein, wenn er nicht vor Hobbyspielern sitzt, die ihn mit einem Schwank amüsieren wollen. Sondern vor professionalisierten Amateuren à la „methusalems“, die ihn zum Beispiel mit einem Drama zum Nachdenken anregen.

Seniorentheater ist heute fester Bestandteil des Kulturlebens

Was ambitionierte Schauspieler über 65 sonst noch auf die Bühne bringen, kann im Herbst, vom 2. bis 5. Oktober, besichtigt werden. „Herzrasen“ heißt das nächste Seniorenfestival, eine Kooperation des Hamburger Schauspielhauses mit der Körber-Stiftung, das unter dem gleichen Titel zum ersten Mal 2006 stattfand. Klaus Wehmeier, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Stiftung, erklärte damals die Grundidee des Festivals so: „,Herzrasen‘ ist ein Höhepunkt unserer Bestrebungen, in dieser Altersgruppe Kreativität, geistige und körperliche Beweglichkeit sowie das kontinuierliche Zusammenspiel im Team zu fördern. Das Festival eröffnet die Möglichkeit, mit anderen Gruppen in den Dialog zu treten und voneinander zu lernen. Unsere Erfahrungen werden zeigen, ob es sich lohnt, daraus eine feste Einrichtung zu entwickeln.“

Zwei Jahre später ist diese Frage längst beantwortet – Seniorentheater sind ein fester Bestandtteil des Kulturlebens. Mit einem kleinen Wermutstropfen allerdings im Spiel der jungen Alten, die so enthusiastisch in eine etwas andere Pubertät aufbrechen. Denn wie sagt doch die alte Frau in dem Stück „Kontakt-Schleifen“? „Wie schnell die Zeit vergeht, man kann gar nicht langsam genug sein“.