Wegfahren heißt nicht ankommen

Wegfahren heißt nicht ankommen

„Methusalems Reisen“: Die Senioren-Theatergruppe des Theaters Freiburg unter der Regie von Helmut Grieser auf Expedition
Hartmut Buchholz, Badische Zeitung, Kultur, 13. November 2004

Der Start ist nahe, und endlich scheint alles erledigt: die Koffer gepackt, die Termine abgesagt, die Checklisten abgearbeitet, der Proviant vorbereitet. Das Entscheidende freilich wurde in der Akribie des Vorbereitens vergessen; keiner hat die Flugtickets vom Reisebüro abgeholt, die Reise, in der Vorstellung schon Realität, ist zu Ende, ehe sie beginnt. Doch bei sich selbst ankommen kann man auch zu Hause. . .

Diese Szene, ein wohlkalkuliertes dramaturgisches Entree, eröffnet einen mit „Methusalems Reisen“ betitelten, zehnteiligen Reigen, der in der Inszenierung von Helmut Grieser im Kleinen Haus des Freiburger Theaters Premiere hatte. Alexander Albikers Bühne – vier mannshohe, auf Rollen montierte, bewegliche Schränke vor einem vorhangbespannten Halbrund – markiert dabei eine Art dramatisches Labor, das auf Staffage und Requisiten gänzlich verzichtet; einzig die – offenbar in die Jahre gekommenen – etikettenbeklebten Lederkoffer illustrieren einen Leit- und Lehrsatz dieser szenischen Miniaturen, der geradezu beiläufig dahingesagt wird: „Das Leben nennt der Derwisch eine Reise.“

Ingrid Israels fein ziselierte, in Dialogen aufgehobene Kurz- und Kürzestdramen künden, oft nur in winzigen Momenten oder jähen Einsichten, von jener vertrackten Dialektik, die seit jeher allem Reisen innewohnt: Reisen als die Phantasie einer Flucht und ihr Scheitern, als die Vision von Veränderung und ihr Dementi, als die Verheißung von Aufbruch und sein Ende, als Utopie einer Ankunft und ihre Verfehlung. „Methusalems Reisen“ können Pauschal-oder Bildungsreisen, Kopf- oder Pilgerreisen, klassischer Urlaub oder lähmendes Exil sein; wie jedes Reisen sind sie Expeditionen und Exkursionen, in denen sich das Verhältnis von Fremd- und Eigenwahrnehmung verändert, in denen im Extremfall eine gesamte Existenz korrigiert und neu entworfen wird.

Helmut Grieser setzt seine „Methusalems“, eine vor vier Jahren gegründete Senioren-Theatergruppe, mit dieser neuen Produktion einem beträchtlichen Risiko aus. Immerhin sind alle Akteure Laien, die sich nach vollendeter Berufslaufbahn nun dem Theaterspielen zugewendet haben. Mag sein, dass in seltenen Momenten ein allzu statisches Deklamieren die Szene beherrscht, ansonsten agieren die „Methusalems“, denen hier oft abgründige Sprechrollen abverlangt werden, außerordentlich nuanciert, mit Bühneninstinkt und Spielwitz.

„Alter ist Kacke“ ziert als Graffito eine Schrankwand, dabei sind diese kreglen Alten als vitale „empfindsame Reisende“ den jugendlichen „Touris“ vermutlich weit voraus. Mal Duett, öfter freilich Duell: Sämtliche Szenen sind Zweierszenen, in der Dramaturgie von Ingrid Israel als Sequenz angelegt, in der ein Thema in zehn Variationen durchgespielt wird. In der Szene „Taormina“ etwa fallen der Antritt einer Reise und die Emanzipation von Familienbanden in eins. „An der Dreisam“, wohl der komödiantische Gipfel, starten ein Penner und ein Wohlstandsverzweifelter in inniger Brüderlichkeit zu einer Pilgerfahrt mit ungewissem Ziel. „Die Geige“, ein melancholischer Abgesang, zeigt eine letzte innere Reise, die eine 85-Jährige ins Altersheim führt, während sie sich doch zu ihrer Mutter unterwegs wähnt.

Wer ins Exil genötigt wird, verreist nicht, sondern wird seiner Heimat beraubt. Die Szene „Exil“ beschließt „Methusalems Reisen“, kein zufälliges Ende, sondern ein mit Bedacht gewählter finaler Programmpunkt. Dieser Exilant, stets auf der Bühne, hatte alle vorigen Szenen beobachtet oder sie sich womöglich so in seinem Kopf abspielen lassen. Der Exilant kann ein Exil gegen ein anderes tauschen – mit beneidenswerter Selbstverständlichkeit auf Reisen gehen kann freilich nur, wer mit so etwas wie „Heimat“ geerdet ist. . .