Tat eines Bildungsbürgers

Tat eines Bildungsbürgers

In Christiane Pohles „Fliegen“- Inszenierung leidet Orest unter Bindungslosigkeit
Otto Schnekenburger, Der Sonntag, 8. Februar 2004

Ihm sei es auch darum gegangen, die Selbstgefälligkeit der Franzosen in ihrer Reue auszumerzen, wie Sartre später einmal schrieb. In der Person des aus dem Exil in seine Heimatstadt heimkehrenden Orest (Christian Heller) wird das Volk von Argos mit der Agonie konfrontiert, in der es seit 15 Jahren verharrt. Seit es sich nicht wehrte, als ihr Herrscher Agamemnon von der eigenen Frau Klytämnestra (Gabriele Köstler) und ihrem sich so den Thron erobernden Liebhaber Ägist (Ullo von Peinen) ermordet wurde.

Orest ist der Sohn Agamemnons und wurde einst von denen, die ihn hätten töten sollen, verschont. Er verbindet sich mit seiner Schwester Elektra (Nadine Geyersbach), die wie eine Sklavin im Palast das Geschirr spülen und die schmutzige Wäsche waschen muss. Elektra, die bis dahin ihren Hass darin kanalisierte, ihre Abfall-und Kotkübel an der Jupiterstatue auszuschütten, hat all die Jahre auf die Rückkehr Orests gewartet, die für sie den Zeitpunkt der Vergeltung bedeutet. Aber sie hat einen wilden Rächer erträumt und zweifelt an Orests Eignung zur Tat: „Geh schöne Seele, ich kann nichts anfangen mit schönen Seelen.“

In Christiane Pohles Inszenierung steht ein Orest im Zentrum, der als humanistischer Bildungsbürger unter seiner Bindungslosigkeit leidet, der sich nach seiner Heimat sehnt. „Eine sehr heutige Problematik“, sagt Christiane Pohle. In einer Zeit, in der in den Demokratien keine wirklich oppositionellen Haltungen mehr vorkommen, sei es eben schwierig geworden, sich zu positionieren.

An der sich in Reue ergehenden Gesellschaft von Argos interessiert Christiane Pohle deren Utopielosigkeit. „Durch ihr Verharren in Reue steht für sie die Geschichte still, sie bewegen sich in der Vergangenheit statt in der Gegenwart“, analysiert der Dramaturg Hans Nadolny. Das Volk von Argos wird in Freiburg von der Seniorentheatergruppe „methusalems“ gespielt. „Wir haben uns auch deshalb für die Methusalems entschieden, weil sie durch ihr Alter das Dritte Reich bewusst miterlebt haben“, erzählt Christian Pohle. „Sie stehen für diese Vergangenheit auf der Bühne, gehören der Generation an, die gefragt wird, warum sie geschwiegen haben.“

Schließlich finden Pohle und Nadolny es spannend, dass der „Held“ Orest bei Sartre das Dilemma des modernen Terroristen teilt, indem er das Volk nicht wirklich befreit und seine Tat letztlich nur für sich selbst begeht. Wie in der Vorlage lässt Pohle Orest gegenüber Jupiter (Achim Buch) standhaft bleiben und zu seiner Tat stehen, wie bei Sartre verzichtet der Muttermörder Orest auch auf eine Thronbesteigung. Mehr als bei Sartre, der den Widerstand auch unter Inkaufnahme unschuldiger Opfer eingefordert hatte, will die Inszenierung aber die Tat Orests hinterfragen. Im Gegenzug soll die zunächst von Hass erfüllte, später aber die Tat zutiefst bereuende und sich von Orest abkehrende Elektra vom Stigma der Versagerin befreit, ihr Konflikt nachvollziehbarer gemacht werden.

Die Bühnen- und Kostümbildnerin Maria Alice Bahra arbeitet für die Inszenierung unter anderem mit schweren Gardinen, wie man sie aus den Schalt-und Machtzentralen der Welt kennt. Weil die für sie sowohl Reichtum als aber auch Stickigkeit und Lichtlosigkeit verkörpern. Und die Schwärme von Fliegen, die bei Sartre die Gewissensbisse des Volkes von Argos symbolisieren? „Wir werden auch bei uns ein Volk auf der Jagd nach den Fliegen sehen“, möchte Hans Nadolny hierzu nur verraten.